Erwartungen und Trauer
- Claudia Flemming

- 3. Mai
- 4 Min. Lesezeit

Wenn wir trauern, verändert sich unsere innere Landschaft. Nicht nur, weil ein Mensch oder eine Verbindung fehlt – sondern auch, weil viele unserer Vorstellungen plötzlich ins Wanken geraten.
Trauer rüttelt an unseren Erwartungen:
- Wie das Leben verlaufen sollte.
- Wie andere sich verhalten sollten.
- Wie wir selbst „damit klarkommen“ müssten.
Gerade in diesen Momenten lohnt es sich, sich das Wort Erwartung einmal genau
anzuschauen – denn darin steckt so viel mehr als bloß eine Enttäuschung, wenn etwas nicht eintritt. Es steckt auch eine große Chance darin, etwas über uns selbst zu erfahren.
Was sind eigentlich Erwartungen?
Erwartungen sind innere Bilder, wie etwas ablaufen sollte – bezogen auf Situationen, Menschen oder uns selbst. Oft tragen wir sie unbewusst in uns. Und während wir auf die Erfüllung dieser Bilder warten, merken wir manchmal gar nicht, wie viel Kraft es kostet, an ihnen festzuhalten.
Im Wort Erwartung steckt auch das Warten. Und genau so fühlt es sich manchmal an:
Wir warten darauf, dass andere uns sehen, uns verstehen, uns geben, was wir brauchen.
Wir warten darauf, dass etwas genauso passiert, wie wir es uns vorgestellt haben.
Wir warten darauf, dass das Leben uns bestätigt.
Manchmal warten wir so lange, dass wir vergessen, was wir eigentlich wollten.
Erwartungen zu haben ist normal und menschlich. Aber sie können schwer werden – wenn sie nicht erfüllt werden oder unausgesprochen im Raum hängen. Und sie können zur Enttäuschung führen.
Ein schönes Wort übrigens, denn Ent-Täuschung bedeutet auch, dass eine Täuschung zu Ende geht. Ich lasse eine Täuschung los. Das klingt erst einmal schmerzhaft, aber damit komme ich der Realität ein Stück näher. Ich sehe klarer. Nicht schöner, nicht leichter – aber echter.
Vielleicht ist der heilsamste Umgang mit Erwartungen, sie zu erkennen, auszusprechen – oder liebevoll loszulassen.
Vor Allem manchmal auch die Erwartungen an uns selbst. Wir glauben, das für Andere leisten zu müssen.
Erwartungen funktionieren in beide Richtungen:
Einerseits erwarten wir etwas von anderen – oft, weil wir glauben, es verdient zu haben oder zu brauchen. Andererseits glauben wir, Erwartungen erfüllen zu müssen – um Anerkennung, Liebe oder Zugehörigkeit zu bekommen.
Das heißt: Wir warten nicht nur auf etwas von außen, sondern stellen uns selbst oft in den Dienst fremder Erwartungen, aus dem inneren Druck heraus, „gut“ zu sein oder nicht zu enttäuschen.
Ein kleiner Exkurs: Wenn die Welt stehenbleibt, aber der Alltag weitergeht
Trauer bringt nicht nur Schmerz, sondern auch eine Menge Erwartungen mit sich – viele davon richten sich an einen selbst.
„Du musst stark sein.“
„Du musst funktionieren.“
„Deine Kinder brauchen dich.“
„Regel die Finanzen.“
„Lächle wieder, irgendwann.“
Selbst wenn innen noch alles brennt, wartet außen oft schon der Alltag: Schule, Einkäufe, Papierkram, familiäre Verantwortung. Und irgendwo dazwischen vielleicht noch die stille Hoffnung, selbst gehalten zu werden – von Freunden, Familie oder einfach vom Leben.
Und manchmal taucht eine ganz andere Erwartung auf, leise und schambesetzt: Darf ich überhaupt wieder lieben? Bin ich schon zu weit, zu schnell? Oder im Gegenteil: Warum bin ich immer noch so traurig? Müsste es nicht längst besser sein?
Auch die Außenwelt hat Bilder im Kopf, wie „richtige“ Trauer aussieht.
Manche Menschen lachen zu früh. Andere sprechen zu wenig. Manche weinen in aller Öffentlichkeit, andere ganz heimlich im Auto.
Aber es gibt keinen Dresscode für Trauer. Keine Tabelle, keinen Zeitplan, keine Bewertungsskala. Und vielleicht liegt genau darin die größte Herausforderung: Inmitten all dieser Rollen – Elternteil, Tochter, Sohn, Berufstätige, Hinterbliebene – eine neue, eigene Rolle zu finden. Eine, die nicht perfekt sein muss. Nur echt.
Vielleicht geht es bei Erwartungen also gar nicht darum, sie ganz abzulegen.
Sondern darum, sie zu erkennen. Dass wir einerseits manche Erwartungen (noch) nicht erfüllen können, weil es unsere Kräfte und Ressourcen nicht zulassen, und andererseits das was wir manchmal nur diffus von Anderen erwarten in klare Aussagen oder Wünsche umwandeln. Zu spüren, wo sie herkommen.
Und uns dann zu fragen: Dienen sie mir – oder halten sie mich fest?
Wie finde ich das heraus? Wie hole ich mir meine Macht zurück unter diesem machmal großen Druck, Erwartungen zu erfüllen und Erwartungen zu haben?
Ein guter Weg, sich den eigenen Erwartungen zu nähern, ist das Fragenstellen.
Aber nicht irgendein Fragen. Nicht: „War das jetzt richtig?“ oder „Hätte ich das anders machen sollen?“
Denn solche Fragen machen klein. Sie legen uns fest.
Stellen wir lieber W-Fragen:
W-Fragen machen weit. Sie holen die Macht zurück zu uns. Und manchmal ist es genau das, was wir in der Trauer am meisten brauchen:
Die Erlaubnis, uns selbst zuzuhören, und die Freiheit, neu zu entscheiden.
W-Fragen zum Thema Erwartungen in der Trauer:
Was habe ich eigentlich erwartet – von mir, von anderen, vom Leben?
Was davon war wirklich mein Wunsch, und was wurde mir vielleicht still übergeben?
Wer steckt hinter dieser Erwartung – eine Stimme von früher, ein inneres Ideal, eine gesellschaftliche Vorstellung?
Warum ist mir genau diese Erwartung so wichtig?
Was passiert in mir, wenn sie nicht erfüllt wird?
Wie gehe ich mit mir um, wenn ich selbst Erwartungen nicht erfüllen kann?
Welche Erwartungen darf ich loslassen, um freier zu atmen?
Was brauche ich stattdessen?
Wem gegenüber wünsche ich mir mehr Klarheit – und wie könnte ich sie selbst herstellen?
Diese Fragen müssen gar nicht alle auf einmal beantwortet werden.
Vielleicht reicht es, sich eine auszusuchen – die, die gerade besonders laut oder besonders leise ruft – und mit ihr ein Stück zu gehen.

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